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„Bitte alle laut denken!“
A Auf dem Stelzenkubus flattert die weiße Fahne. Stehen ihm gegenüber. Auf der obersten Stufe eines terrassenförmigen Podests. Blicken zu ihm hinüber. Der Sehschlitz gestattet die optische Teilüberwachung. Lautsprecher, innen. Schalldämmung. Ein Raum aus fremden Stimmen. Lauschangriff. Ein Ort, um Kontrolle auszuüben. Ein Ort, um kontrolliert zu werden. Ein Ort der Scheinautonomie. Ein Raum
in einer Hülle. Schallisoliert, fensterlos, der Bunkerbau der Reaktorhalle. Abgebrochener
Versuch. Vergänglichkeit der Technik. In welcher Zeit?
B Wir haben eine Nummer und einen Buchstaben. Der Buchstabe weist uns einer der
sieben Plattformen A – H auf den schwarzen Stufen zu: schwarze Hocker, von strahlend weißen Brüstungen eingefaßt, hell beleuchtet, Mikrophone darüber. Man darf sich verhalten. Eng ist es. – „Geht’s?“ – Lächeln. Wir sehen. Den anderen zu, wie sie hereinkommen, ihre Plattform suchen,
sich setzen. Jeder hat eine Eintrittskarte. Wir unterhalten uns und werden
abgehört. „Ich will heute über Erinnerung reden.“ Mit mir? Es beginnt langsam, wie nebenbei.
C Ich rede über den Mechanismus des Erinnerns.
Ich befühle ein schmerzendes Fibulaköpfchen.
Ich sehe Filme von Hochzeiten und Tieren und hätte beinahe jemanden erkannt.
Ich blättere in säuberlich beschrifteten Kalendern, in denen die Aufzeichnungen über das Wetter die emotionalsten sind.
Ich höre, weil ich die Augen schließe.
Ich höre einen Poeten „Ruhe“ schreien.
Ich erkenne, daß „die Lautdichtung eine schweißtreibende Angelegenheit ist“.
Ich bekomme ein orangefarbenes Tictac geschenkt, von einer Dame, die
Verschiedenes verrichtet und über ein Bonbon sagt, es sei eine „angefeuchtete Erinnerung“.
D „Wir schaffen eine Installation, an der man teilhaben kann, einen skulpturalen
Raum, in dem sich Menschen verschärft äußern“, sagt Samuel Rachl. „Eine Situation, in der sich Dinge ergeben“, sagt Angela Dauber. „Eine Situation, in der sich Dinge ergeben und andere sich eher nicht ergeben“, sagt Angela Dauber. „Das Kunstwerk an sich geht vom Werk weg hin zur kollektiven Handlung und
Autorschaft“, sagt Samuel Rachl. „Wir wollen eine Verlaufsform schaffen“, sagt Angela Dauber, „und mit dem Moment des Flüchtigen arbeiten.“
E Wir überblicken das Ganze. Und geraten mit unserer Aufmerksamkeit immer mehr ins
Rutschen. Wechseln mit Augen und Ohren zwischen den Plattformen hin und her. Später steigen wir von einer zur anderen. Kommen zu spät. Bekommen was mit, verpassen was. Sind gehalten von einer deutlich spürbaren, unsichtbaren Achse zwischen dem hochgestellten weißen Kubus und dem Mann auf Stelzen, der zackig Kommandos ausgibt: „Bitte alle laut denken!“ Oder: „Sie dürfen jetzt die Plattform wechseln.“ Und: „Achtung Stufe!“ Der dazwischen seine Schritte abmißt, abzählt. Kommentiert, was er tut. Und sieht, was wir tun. Er kennt den Verlauf. Wir
sind die Kaninchen. Wir lernen erst die Zeichen, mit denen wir uns verständigen können. Sind nicht so extrovertiert wie die Akteure, die Gehör einfordern. Und einmal alle durcheinander schreien.
F Man bekommt was geboten, kommt aber weg davon, nur darauf zu warten, was geboten
zu bekommen.
G Jeder redet in der ihm eigenen Kunst-Sprache. Gegenseitig kommentieren sie die
Aktionen und Verhaltensweisen der anderen. Knüpfen ein Netz von Plattform zu Plattform. Der Faden liegt. Man kann ihn
aufnehmen. Sich rühren. Kein Raum mehr. Fast ständige Bewegung. Was alles passiert. Ein Jahrmarkt. Eine Talkshow. Eine
Selbsterfahrung. Schöne neue Welt. „Schöne weite Welt“.
H Nur gucken ist auch gestattet. Aber dann, sagt Angela Dauber, sollte man
trotzdem nahe kommen.
Katja Schneider
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Fotos Franz Kimmel
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